Dummerweise hatte ich vergessen, Marlen zu fragen, ob sich ihre Handynummer geändert hatte. Doch ich ging davon aus, da sie weder auf meine SMS antwortete noch meine Anrufe entgegennahm.
Deshalb saß ich bereits um zehn Uhr auf der Bank vor der Eisdiele. Ich hatte an dem Tag keine Lesung, musste also nicht zu Uni und hatte Unmengen Zeit. Außerdem war es nicht weit; von der Bank aus konnte ich sogar meine Wohnung im elften Stock des Hochhauses zwei Straßen weiter sehen. Unwillkürlich musste ich zurückdenken, an den Einzug und Papas rotes Gesicht, als er das Sofa, das viel zu groß für den Fahrstuhl war, die Treppe hochhievte.
Ich traute mich nicht, mir ein Eis zu kaufen. Einerseits sah das sicherlich blöd aus, wenn Marlen kam, andererseits hatte ich Angst, bei der Kälte auf der Bank festzufrieren. Für Mitte Februar war es zwar ungewöhnlich warm, aber für meinen Geschmack immer noch zu kalt zum Eis Essen. Was Marlen dazu bewegt hatte, sich mit mir in der einzigen Eisdiele zu treffen, die um diese Jahreszeit geöffnet hatte, war mir schleierhaft.
Gelangweilt sah ich mich um. Viel war nicht los auf den mit schmutzigem Schnee gesäumten Straßen. Die Schaufenster waren voll von Mänteln, Stiefeln und Wintersportausrüstung, Werbungen für Skiausflüge und Mallorca-Reisen. Ein Sonnenstudio warb mit einer braun gebrannten, stark entblößten Frau vor einem Iglu. Mein Blick blieb kurz haften, dann wurde er von Marlen abgelenkt, die, ohne das Plakat zu beachten, an dem Sonnenstudio vorbei und auf die Eisdiele zu ging. Sie hatte mich noch nicht bemerkt, also beschloss ich, zu warten bis sie sich einen Tisch gesucht hatte. Ich zog meinen Schal zurecht, schob mir die Mütze leicht ins Gesicht und sah ihr nach.
Als sie in der Eisdiele verschwunden war, stand ich langsam auf, streckte mich und schlenderte ebenfalls darauf zu, darauf bedacht, mich nicht zu beeilen. Kurz darauf öffnete ich mit einem Gefühlsmix aus vorfreudig und mulmig die Tür.
Marlen saß in der hintersten Ecke der ansonsten leeren Eisdiele. Der Italiener hinter der Bar begrüßte mich freudig. Er hatte wahrscheinlich seit Monaten nicht mehr so viele Gäste wie heute. Als ich Marlen sah, erschrak ich ein wenig. Sie sah aus, als hätte sie bis vor ein paar Minuten noch geweint; ihr Gesicht war um die Augen herum rot und geschwollen und ihre Nase lief. Wie sie so elend dasaß, überlegt ich, ob ich sie darauf ansprechen sollte oder lieber nicht. Doch ich konnte nicht anders. Sie sah einfach zu niedergeschlagen aus, um das Thema zu ignorieren. "Ist hier noch frei?", fragte ich während ich meinen Mantel aufknöpfte.
Erschrocken sah Marlen von der blanken Tischplatte auf, dann entspannten sich ihre Gesichtszüge ein wenig. "Du bist es. Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr." Sie klang nicht vorwurfsvoll, eher traurig. "Ich hab' ganz vergessen, dir die Uhrzeit zu sagen, und mein Handy kann ich auch nicht finden, und…" Ihre Augen schimmerten feucht. Zwar war außer uns niemand da, dennoch hatte ich Angst, dass sie im nächsten Moment zu weinen anfangen würde. Schnell ergriff ich ihre Hand, die auf dem Tisch lag. Sie verstummte, und plötzlich wurde mir bewusst, was ich da eigentlich gerade getan hatte. Doch sie zog sie nicht zurück, sondern ließ mich ihre Hand halten und beruhigte sich ein wenig.
"Ganz ruhig."
Der Kellner kam und nahm unsere Bestellung auf. Marlen wollte erst nichts, dann bestellte sie eine heiße Schokolade und eine Kugel Schoko-Eis. Ich nahm einen kleinen Erdbeerbecher. Zu Eis konnte ich nichts trinken, aber Marlen schien Frustschokolade zu brauchen. Als der Kellner wieder ging, hatte sie offenbar ihre Fassung zurückgewonnen.
"Meine Eltern haben mich rausgeworfen", erzählte sie unvermittelt.
Ich riss die Augen auf. "Was? Wieso?"
"Ich hab' vorhin nochmal versucht, das mit der eigenen Wohnung anzusprechen. Da sind die beiden total ausgeflippt, haben mich angeschrien, von wegen Undankbarkeit und so. Mama hat sich in der Küche eingeschlossen vor Wut. Und Papa meinte, wenn ich bis Übermorgen nicht ausgezogen sein würde, würde er meine Sachen eigenhändig rausschmeißen." Sie schnäuzte sich und wischte sich Tränen aus den Augenwinkeln. Dann sah sie mich direkt an. "Was mach ich denn jetzt nur?" Sie klang verzweifelt. Mitleidig sah ich sie an.
"Du könntest eine Weile bei mir wohnen", schlug ich vor. "Ich hab' noch 'n Zimmer frei." Ich sagte das ohne jeden Hintergedanken, doch Marlen schüttelte den Kopf.
"Auf keinen Fall. Wenn Papa rauskriegt, dass ich jetzt zu 'nem Jungen ziehe, dreht er mir wahrscheinlich den Hals um. Und dir auch."
Wir schmunzelten. Die Stimmung war zu bedrückt zum Lachen. Der Kellner kam zurück und brachte unsere Bestellung. Marlen griff zum Zucker, ich zur Waffel, die aus der Sahne meines Bechers ragte. Ich musste an letzte Nacht denken. Marlen hatte ich gefunden, und sie hatte den Kontakt mit mir anscheinend nicht absichtlich vermieden. Und sie war garantiert Single. Wer würde es schon zulassen, dass sich seine Freundin an zwei Tagen hintereinander allein mit jemand anderem trifft? Ich wollte ja auch nicht mehr, als sie als Freundin nicht zu verlieren, so wie die meisten anderen nach der Schule. Plötzlich fiel mir ihr violetter Schal auf, der über ihrer Stuhllehne hing. "Ich hab's!", rief ich so abrupt, dass sie sich fast an ihrem Kakao verschluckte. Erwartungsvoll, aber ohne Hoffnung, blickte sie mich an. "Was denn?"
"Wir fragen Veronica!"
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